Kerstin Probiesch

GESCHRIEBEN VON

Kerstin Probiesch
Kerstin Probiesch ist selbstständige Beraterin für barrierefreie Informationstechnik. Sie leitet und begleitet Webprojekte von der Konzeption an, prüft Webangebote und Intranets auf Barrierefreiheit und Konformität mit internationalen Standards sowie der deutschen BITV 2.0 und erstellt und prüft PDF-Dateien auf Konformität mit Standards für Barrierefreiheit. Frau Probiesch ist Autorin zahlreicher Fachartikel zum Thema und war mehrere Jahre Invited Expert beim World Wide Web Consortium (W3C). Sie berät seit mehr als 20 Jahren bei der Umsetzung Digitaler Barrierefreiheit.

Barrierefreiheit im Web

Geschrieben von Kerstin Probiesch

Barrierefreiheit Tastatur

Wenn Sie die Konversionsrate in drei Monaten verdoppeln und den Traffic um 50% erhöhen könnten, was wäre Ihnen das wert? Damit begann vor einigen Jahren eine Präsentation zur Digitalen Barrierefreiheit von Unternehmenswebsites des World Wide Web Consortiums (W3C), dem wichtigsten Gremium für die Entwicklung von Webstandards. Denn – und daran hat sich bis heute nichts geändert: Barrierefreie Webseiten bieten nicht nur behinderten Besuchern einen Vorteil.

Viele Kriterien der Digitalen Barrierefreiheit kennen Sie bestimmt bereits, z.B. aus Tipps von Suchmaschinenoptimierern, und zwar:

  • Aussagekräftige und sinnvolle Seitentitel,
  • Alternativtexte für Bilder und
  • gut strukturierte Seiten und Dokumente

Diese Maßnahmen fördern die Sichtbarkeit in Suchmaschinen und erhöhen gleichzeitig die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit für Menschen mit Behinderungen.

Zielgruppe – nicht nur Menschen mit Behinderung

Unabhängig von den Zielgruppen der Menschen mit Behinderung, für die eine barrierefreie Umsetzung essenziell ist und der Gruppe der älteren Nutzer, die ebenfalls profitieren, kommen zahlreiche Aspekte der Digitalen Barrierefreiheit allen zugute:

  • Eine klare Nutzerführung für eine bessere Orientierung sowie eindeutige und aussagekräftige Formularbeschriftungen etwa sorgen für weniger Abbrüche beim Onlineshopping.
  • Eine verlustfreie Anpassbarkeit an verschiedene Bildschirmauflösungen unterstützt Vergrößerungssysteme bzw. Vergrößerungsbedarf und ermöglicht zudem eine problemlose Darstellung auf Smartphones und anderen (mobilen) Endgeräten.
  • Gute Kontraste statt nobler Blässe unterstützen nicht nur Menschen mit sogenannten moderaten Sehschwächen. Das Kontrastsehen bzw. dessen Abnahme ist ein schleichender Prozess. Er betrifft nicht nur ältere Menschen, sondern auch Menschen, die noch mitten im Berufsleben stehen. Unmerklich kann das Kontrastsehen nachlassen, wodurch sich auch die Lesegeschwindigkeit und die Interaktionsgeschwindigkeit mit einer Website oder einem Online-Shop reduzieren kann.

Wie geht Barrierefreiheit?

Ein guter, international anerkannter und verwendeter Maßstab sind die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG). Die aktuell relevante und in naher Zukunft nicht nur für den öffentlichen Dienst, sondern per Gesetz auch für große Teile der Privatwirtschaft, maßgebliche Version ist die WCAG 2.2. In den WCAG wurden konkrete Erfolgskriterien für Digitale Barrierefreiheit formuliert und in ergänzenden Dokumenten gibt es Erläuterungen zu den Kriterien sowie für die konkrete Umsetzung. Als internationale Zugänglichkeitsrichtlinien für barrierefreie Webinhalte sind die WCAG sowohl für lokal bzw. national operierende als auch international aufgestellte Unternehmen ein valider Maßstab und wurden 1:1 in den europäischen Standard 301 549 übernommen. Dieser ist vornehmlich für den öffentlichen Dienst relevant, es ist jedoch eindeutig, dass er auch für die Firmen relevant wird, die unter den European Accessibility Act (EAA) fallen und damit unter das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) – die deutsche Umsetzung der genannten EU-Richtlinie.

Erste eigene Tests

Einige Aspekte der Barrierefreiheit können Sie auch mit geringen Webkenntnissen prüfen und so eine erste Einschätzung vornehmen.

Vergrößern

Können Sie alle Texte, inkl. Texten in Eingabefeldern von Formularen (z.B. Bestell- und Kontaktformular) verlustfrei vergrößern oder werden Seitenbereiche abgeschnitten und Schriften überlagern sich? Machen Sie den Test! Rufen Sie Ihr Webangebot z.B. mit Chrome oder Firefox auf und stellen Sie eine größere Schrift ein. Wenn es keine Probleme gibt, dann haben Sie gute Voraussetzungen für die Besucher Ihrer Firmenpräsenz und Kunden Ihres Onlineshops geschaffen, die es etwas größer brauchen oder möchten.

Kontraste

Ein ausreichendes Kontrastverhältnis macht Texte leserlich für Menschen mit Seheinschränkungen aller Altersstufen. Mancher Laptopnutzer wird es Ihnen ebenso danken wie auch der Benutzer von Smartphones. Das Tool Color Contrast Analyser bietet Ihnen eine einfache Testmöglichkeit. Prüfen Sie vor allem Fließtexte und Links in Inhalts- und Navigationsbereichen; Logos und Wortbildmarken sind nicht betroffen.

Mit Maus und Tastatur

Rufen Sie Ihre Firmenpräsenz oder Ihren Onlineshop in Chrome oder Firefox auf, legen Sie die Maus zur Seite und tabben Sie sich mit der Tabulatortaste durch Ihr Webangebot. Sie finden diese Taste links neben dem Q auf der deutschen Standardtastatur.

Lassen sich alle Elemente, Bereiche und Links problemlos ansteuern, bedienen und wieder verlassen – inkl. Video- und Audioschaltflächen? Dann stehen die Informationen über Ihr Unternehmen und Ihre Produkte sehenden und blinden Tastaturbenutzern zur Verfügung und ermöglichen im Zusammenspiel mit weiteren Erfolgskriterien eine reibungslosere Bedienung Ihres Onlineshops.

Zeigen visuelle Merkmale (z.B. Linkunterstreichungen, Farbwechsel) immer, wo Sie sich auf der Seite beim Durchtabben befinden, und zwar mindestens durch den gestrichelten Kranz des Browsers? Dann werden auch sehende Tastaturbenutzer ihre Freude haben und eine geplante Bestellung nicht aus diesem Grund abbrechen müssen. Dies umso mehr, wenn die Tab-Reihenfolge der sichtbaren Darstellung am Monitor folgt.

Weitere Aspekte

Neben den genannten Punkten spielen weitere Aspekte eine Rolle, wie Textalternativen für Audiodateien sowie die o.g. Bildbeschreibungen z.B. in Form von Alternativtexten und die sinnvolle Benennung und Auszeichnung von Überschriften und Formularbeschriftungen.

Auch an PDF denken

Barrierefreiheit spielt auch für PDF eine wichtige Rolle. Mit dem kostenfreien PDF Accessibility Checker (PAC) können Sie die Qualität Ihrer intern erstellten PDF einschätzen und die Ergebnisse externer Dienstleister prüfen. Beachten Sie aber unbedingt, dass „alles grün im PAC“ nicht bedeutet, dass alle Aspekte der Barrierefreiheit erfüllt sind und das PDF barrierefrei oder standardkonform ist. Denn die Konformität mit den oben genannten Standards kann nur eingeschränkt automatisch geprüft werden. Dies gilt sowohl für PDF als auch Websites. Es lohnt sich auch darüber nachzudenken, ob und welche Informationen tatsächlich als PDF zur Verfügung gestellt werden müssen und sollen, denn noch immer gilt: HTML lässt sich einfacher barrierefrei umsetzen.

Barrierefrei von Beginn an berücksichtigen!

„Barrierefreiheit? Das machen wir später.“ Das kann gutgehen, tut es aber meist nicht. Barrierefreiheit gelingt umso besser, je früher Sie daran denken. Bereits in der Konzeptions- und Layoutphase können (spätere) Hürden vermieden werden. Bereits in einem frühen Entwicklungsstadium sollte an die Schulung der Online-Redaktion, an Style Guides sowie die spätere Qualitätssicherung gedacht werden. Eine lohnende Investition sind entwicklungsbegleitende Tests und Beratung durch externe Experten. Sie dienen der Früherkennung und verhindern, dass sich Fehler „durchschleifen“. Je komplexer, desto mehr empfehlen sich ergänzende Tests durch Menschen mit Behinderungen und ältere Nutzer. Dabei gilt: Je mehr Seiten und Elemente geprüft werden, desto zuverlässiger ist das Ergebnis.

Damit sowohl Sie als auch Ihr Dienstleister Planungs- und Vertragssicherheit haben, sollten Sie die gewünschte Richtlinie und Konformitätsstufe vertraglich fixieren. Ein allgemeiner Passus „Die Website/der Online-Shop soll barrierefrei sein“ überlässt das Ergebnis zwar nicht zwingend dem barrierefreien Zufall, wohl aber der Interpretation.

Wie viel Barrierefreiheit muss sein?

Über viele Jahre mussten lediglich Angebote öffentlicher Stellen, z.B. Angebote des Bundes, barrierefrei umgesetzt werden. Dies wird sich mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) spätestens zum Juni 2025 ändern, denn das BFSG nimmt als Umsetzung einer EU-Richtlinie auch die Privatwirtschaft stärker in die Pflicht.

Wichtige Richtlinien, die auch Einzug in den Europäischen Standard EN 301549 fanden und aller Voraussicht nach auch für die Umsetzung des BFSG und damit für Teile der Privatwirtschaft relevant werden sind die bereits oben erwähnten WCAG 2.2. Diese definieren drei Konformitätsstufen: A, AA und AAA. Mit jeder Stufe steigt die Barrierefreiheit für Menschen und damit die Reichweite Ihres Angebots. Setzen Sie vor allem bei Relaunches und neu erstellten Firmenpräsenzen mindestens auf Konformitätsstufe AA. Dies entspricht auch den gesetzlichen Vorgaben, die sich aus dem European Accessibility Act (EAA) ergeben werden. Auch bei bestehenden Webseiten lohnt ein Blick auf und unter die Haube, um Handlungsbedarf und Handlungsoptionen zu klären. Ob Sie mit Ihrem Unternehmen unter das BFSG fallen können Sie dort in einer abschließenden Aufzählung nachlesen, und zwar in §1 Abs. 2 und 3 BFSG. Den direkten Link zum genannten Gesetz finden Sie unten.

Barrierefreiheit bedeutet aber, dass mehr Menschen Ihr Webangebot oder Ihren Onlineshop effektiv nutzen können. Barrierefreiheit ist mehr als die Notwendigkeit einer zusätzlichen Serviceleistung für behinderte Menschen. Als Teil geltender und erprobter Webstandards ist sie ein elementares Kriterium für die Nachhaltigkeit und Qualität Ihrer Website und Ihres Onlineshops. Barrierefreiheit ist als Qualitätsmerkmal deshalb ebenso wichtig wie ein zeitgemäßes Design, eine durchdachte Benutzerführung und eine professionelle technische Umsetzung.

Weiterlesen und informieren

Bildrechte

© KellyISP via canva.com